Muss jeder Christ evangelisieren?

Manche Gemeindemitglieder fragen sich, ob sie die Evangelisation nicht besser den „Profis“ überlassen sollten. Schließlich ist Evangelisation doch eine geistliche Gabe – oder?

In diesem Artikel möchte ich Pastoren eine kurze Orientierungshilfe geben, wie sie auf solche Fragen antworten können.

Zwei häufige Einwände

Muss wirklich jeder Christ evangelisieren? Die biblische Antwort lautet eindeutig: Ja. Dennoch begegne ich immer wieder zwei Hauptargumenten, mit denen manche diese Pflicht verneinen.

1. Der Missionsbefehl galt nur den Aposteln und betrifft uns heute nicht mehr

Ein erstes Argument lautet, dass der Missionsbefehl ausschließlich den Aposteln gegeben wurde und daher heute keine Gültigkeit mehr habe. Zwar stimmt es, dass der Missionsbefehl (Matthäus 28:18–20) im ursprünglichen Kontext an die Apostel gerichtet war, doch er war nicht nur für die Apostel bestimmt. Das Gebot, „sie zu lehren, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe“, schließt unweigerlich auch das Gebot ein, Jünger zu machen.

D.A. Carson merkt dazu treffend an, dass Jesus im Missionsbefehl keineswegs sagt: „… und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe – außer dieses eine Gebot, Jünger zu machen. Lasst sie bloß die Finger davon, das gehört nur euch, meine lieben Apostel.“1

Was hatte Jesus den Aposteln geboten? Unter anderem, das Evangelium der ganzen Schöpfung zu verkünden. Dieses Gebot, das Jesus den Aposteln gab, gilt daher auch jedem Gläubigen heute.

Und wie steht es mit Jesu Verheißung: „Ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Zeitalters“? Würden wir ernsthaft behaupten wollen, dass diese Zusage nur den Aposteln galt? Natürlich nicht – sie gilt auch uns heute!

2. Weil nur manche die „Gabe der Evangelisation“ haben, sei Evangelisation keine Pflicht für alle

Ein zweiter Einwand lautet folgendermaßen: Da nur manche Christen die sogenannte „Gabe der Evangelisation“ besitzen, seien nicht alle Gläubigen verpflichtet, Zeugen für Christus zu sein. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Thema „Gabe der Evangelisation“ würde an dieser Stelle zu weit führen, aber einige Beobachtungen sind dennoch hilfreich.

Erstens: In den gängigen Auflistungen der geistlichen Gaben im Neuen Testament wird Evangelisation nicht ausdrücklich genannt; stattdessen wird in Epheser 4:11 das Amt des Evangelisten erwähnt. Manche Ausleger – auch ich selbst – stellen deshalb in Frage, ob Evangelisation überhaupt als eine eigene geistliche Gabe (wie etwa Geben, Dienen usw.) verstanden werden sollte.

Und selbst wenn man Evangelisation als geistliche Gabe ansieht, bleibt sie dennoch ein Auftrag an alle Gläubigen – genau wie das Geben, Dienen oder Barmherzigkeit üben. Wer die „Gabe der Evangelisation“ nicht hat, ist dadurch nicht von seiner Berufung entbunden, anderen Menschen Christus zu bezeugen.

Vier biblische Gründe, warum jeder Christ evangelisieren sollte

Gibt es in der Bibel Hinweise darauf, dass jeder Gläubige evangelisieren soll? Ich meine: Ja – und zwar aus den folgenden vier Gründen:

Die Gebote, Zeugen zu sein, richten sich an alle Nachfolger Jesu

Erstens: Die Aufforderungen, Zeugen zu sein, gelten ausnahmslos allen Jüngern Jesu. In Apostelgeschichte 1:8 heißt es: „Aber ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch gekommen ist, und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde.“ Diese Worte sind ein Auftrag des auferstandenen Herrn an alle seine Nachfolger.

John Stott bringt es treffend auf den Punkt: „Wir können das Gebot, Zeugen zu sein, nicht stärker einschränken als die Verheißung des Geistes.“2


2. Korinther 5: Jeder Gläubige ist ein Botschafter Christi

Als Paulus an die Gläubigen in Korinth schrieb, hielt er fest:

„Das alles aber ist von Gott, der uns durch Christus mit sich selbst versöhnt hat und uns den Dienst der Versöhnung gegeben hat; denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst, indem er ihnen ihre Übertretungen nicht anrechnete, und hat unter uns das Wort von der Versöhnung aufgerichtet. So sind wir nun Botschafter an Christi statt, und Gott ermahnt durch uns; wir bitten für Christus: Lasst euch versöhnen mit Gott!“
(2. Korinther 5,18–20)

Der Dienst der Versöhnung und die Rolle als Botschafter Christi sind nicht allein den Aposteln vorbehalten – sie gelten allen Gläubigen! Auch andere Bibelstellen betonen diesen allgemeinen Zeugendienst aller Christen, darunter: Matthäus 5:14–16; 1. Petrus 3:15; Philipper 2:14–16; Kolosser 4:5-6 und 1. Petrus 2:9.3


Das Vorbild „gewöhnlicher Gläubiger“ in der frühen Gemeinde

Ein weiterer Beleg findet sich im Vorbild der „gewöhnlichen Gläubigen“ in der Urgemeinde. Wer den Verlauf der Apostelgeschichte verfolgt, erkennt schnell, dass die Apostel selbst aktiv evangelisiert und Jünger gemacht haben. Doch dabei blieb es nicht – auch ganz normale Gemeindeglieder verkündigten das Evangelium.

Nach der Steinigung des Stephanus lesen wir in Apostelgeschichte 8:1: „An jenem Tag aber entstand eine große Verfolgung gegen die Gemeinde in Jerusalem, und alle wurden zerstreut in die Gebiete von Judäa und Samaria – außer den Aposteln.“ Und was taten diese „gewöhnlichen“ Christen? Vers 4 berichtet: „Die Zerstreuten aber zogen umher und verkündigten das Wort als Evangelium (euangelizomenoi).“

Mit anderen Worten: Sie predigten das Evangelium – auch ohne ein offizielles Amt oder eine besondere „Gabe“. Evangelisation war Teil des gelebten Glaubensalltags


Der angesehene Kirchengeschichtler Kenneth Scott Latourette bemerkte über die Ausbreitung des Evangeliums:

„Die Hauptakteure in der Ausbreitung des Christentums scheinen nicht diejenigen gewesen zu sein, die es zu ihrem Beruf oder zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Tätigkeit gemacht haben, sondern Männer und Frauen, die ihren Lebensunterhalt auf völlig weltliche Weise verdienten und im natürlichen Umgang mit anderen über ihren Glauben sprachen.“4


Die Haushalterschaft, die uns das Evangelium auferlegt

Drittens: Wir sollten über die Haushalterschaft nachdenken, die uns das Evangelium auferlegt. Jesus sagt: „Jedem, dem viel gegeben wurde, von dem wird viel verlangt“ (Lukas 12:48). Es gibt kein größeres Geschenk als das Evangelium – und keine größere Verantwortung als die, diese gute Nachricht mit anderen zu teilen. Paulus bringt es in 2. Korinther 5:14 auf den Punkt: „Denn die Liebe Christi drängt uns.“


Der „Dienst am Nächsten“ in Epheser 4

Viertens: Betrachten wir, was Paulus in Epheser 4 als den „Dienst am Nächsten“ beschreibt. In diesem Kapitel nennt Paulus verschiedene Ämter innerhalb der Gemeinde (Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer). Er erklärt, dass Christus diese Gaben der Gemeinde gegeben hat, um „die Heiligen zum Werk des Dienstes auszurüsten, zur Erbauung des Leibes Christi“ (Epheser 4:12).

Zur Ausrüstung der Heiligen gehört zweifellos auch die Evangelisation. Epheser 4 stellt damit eine klare Herausforderung an alle Pastoren dar: Schulen wir unsere Gemeindeglieder darin, das Evangelium weiterzugeben? Und leben wir ihnen das auch selbst vor?

Manche Christen schrecken vor Evangelisation zurück, weil sie meinen, sie müssten dabei aufdringlich oder unangenehm sein. Doch es gibt viele Arten, das Evangelium zu teilen. Der Inhalt ist festgelegt – die Botschaft vom Evangelium Jesu Christi –, aber die Art und Weise, wie wir sie weitergeben, kann vielfältig sein.


Fußnoten:

  1. D.A. Carson, „Ongoing Imperative for World Mission“, in The Great Commission: Evangelicals and the History of World Missions, hrsg. von Martin I. Klauber und Scott M. Manetsch (Broadman & Holman, 2008), 179. ↩︎
  2. John Stott, zitiert in: The Message of Acts, The Bible Speaks Today (InterVarsity Press, 1990), 44. ↩︎
  3. Zwar steht in 1. Petrus 3,15 eher eine Form der „passiven Evangelisation“ im Vordergrund – also die Antwort auf Fragen von Ungläubigen – doch wird hier klar, dass alle Gläubigen jederzeit bereit sein sollen, Auskunft über ihre Hoffnung zu geben. ↩︎
  4. Kenneth Scott Latourette, A History of the Expansion of Christianity (Harper & Brothers, 1937), Bd. 1, S. 116. ↩︎

Dieser Beitrag erschien zuerst bei 9marks. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
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