Jede gute Gemeinde ist chaotisch

Ich bin jetzt seit über zwanzig Jahren Teil einer Gemeinde. Ich werde meine erste Erfahrung in einer wirklich bibeltreuen, geist-erfüllten Gemeinde nie vergessen. Ich war überrascht, dass die Leute wirklich gern dort waren, völlig baff, dass sie die Liedtexte kannten, und regelrecht schockiert, dass sie auch außerhalb der Gemeinde über ihren Glauben gesprochen haben. Ich sah Ehepaare, die liebevoll miteinander umgingen, respektvolle Kinder und Studenten, die sich nicht jedes Wochenende betranken. Das hat mich tief beeindruckt – ich war von der Gemeinde überzeugt.

Zwanzig Jahre später kenne ich auch die Schmerzen, die das Gemeindeleben mit sich bringt. Ich habe erlebt, wie man von den Mühlen der Gemeindepolitik zermürbt wird, wie Leiter Entscheidungen treffen und die Mitglieder dabei links liegen lassen, wie Freunde verletzende Worte sagen, wie Mitglieder durch Sünde ihr Leben ruinieren und wie Gemeindestunden manchmal fast so wild waren wie eine Folge von „Bauer sucht Frau“ wirkten.

Gemeinde war nicht immer angenehm. Und während viele enttäuscht aufgegeben haben und die Gemeinde wie ein Spukhaus verlassen haben, liebe ich die Gemeinde trotzdem. Ich habe sogar meine Familie umgesiedelt, um beim Wiederaufbau einer kämpfenden Gemeinde zu helfen. Was ich tue, mag für manche unverständlich sein, aber trotz aller Unvollkommenheit und Sünde, die wir in der Gemeinde sehen – wir lieben sie dennoch.

Keine Überraschungen

Niemand sollte überrascht sein, dass die Gemeinde aus Sündern besteht – das gehört ja gerade zu dem Bekenntnis, mit dem man überhaupt Gemeindemitglied wird: Wir sind nicht perfekt und werden es in diesem Leben auch nie sein. Im besten Fall besteht die Gemeinde in dieser Zeit aus Sündern, die Christus aufrichtig, wenn auch unvollkommen, nachfolgen. Und unvermeidlich sind auch solche dabei, die Christus nicht wirklich nachfolgen.

Schon die ersten Gemeinden im Neuen Testament waren so. Manche Menschen waren stolz auf ihre Gaben (1. Korinther 12:21), andere lieblos oder nicht bereit, mit Menschen anderer Herkunft Gemeinschaft zu haben (Galater 2:11–12). Einige führten Rechtsstreit untereinander (1. Korinther 6:1), manche betranken sich sogar beim Abendmahl (1. Korinther 11:21), und andere lebten in sexueller Unmoral – einer hatte sogar ein Verhältnis mit einem Familienmitglied (1. Korinther 5:1)! Paulus sagte zu einer Gemeinde sogar, ihre Zusammenkünfte würden mehr schaden als nützen (1. Korinther 11:17) – das ist schon bemerkenswert.

Aber Paulus ließ sich von all dem nicht aus der Bahn werfen. Und er gab die Gemeinde ganz sicher nicht auf. Im Gegenteil: Er schrieb, dass solche Spannungen sogar notwendig seien, damit offenbar wird, wer sich im Glauben bewährt (1. Korinther 11:19). Das ganze Durcheinander war nichts Unerwartetes – es entsprach dem, was die Apostel erwartet hatten. Und auch wir sollten es nicht anders erwarten.

Warum also liebe ich den manchmal unbequemen, chaotischen und schmerzvollen lokalen Leib Christi?

1. Wir werden durch die herausgefordert, die schwer zu lieben sind.

Gott führt Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Nationalitäten, sozialen Schichten und geistlicher Reife in der Gemeinde zusammen (Epheser 3:10). Diese Vielfalt ist etwas Wunderschönes. Gerade weil wir mit Menschen zu tun haben, die anders sind als wir – und manchmal schwer zu lieben –, wachsen wir.

Menschen zu lieben, die uns sympathisch sind, ist einfach. Doch mit Menschen Gemeinschaft zu haben, die uns herausfordern, und in schwierigen Situationen liebevoll zu bleiben, lässt uns immer wieder über die Liebe Christi staunen. Es zwingt uns, in dieser Liebe zu wachsen – in ihrer Erkenntnis und in ihrem Ausdruck. Gerade im Chaos erleben wir echte Vergebung, Mitgefühl, Demut und Versöhnung. Ohne das Chaos hätten wir diese Dinge womöglich nie gesehen.

2. Wir werden durch die gewarnt, die vom Glauben abfallen.

Einige der schlimmsten Dinge, die ich in der Gemeinde erlebt habe, geschahen durch Menschen, die vom Glauben abgefallen waren – oder dabei waren, sich von ihm zu entfernen. Die Folgen ihres Handelns zu sehen, war ernüchternd.

Als ich zum ersten Mal mit den Problemen der Gemeinde konfrontiert wurde, dachte ich, Jesus sei das Problem. Ich glaubte, sein Wirken in unserer Gemeinde sei unzureichend oder unvollständig – dass er der Grund für unsere Schwierigkeiten sei.

Dann wurde mir klar: Die meisten dieser Menschen, die für Aufruhr sorgten, hatten innerlich mit ihrem Glauben zu kämpfen. Das weckte in mir nicht Verurteilung, sondern Mitgefühl – und es brachte mich dazu, für sie zu beten und ihnen helfen zu wollen (Matthäus 18:12). Wenn ich die Gemeinde schon beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten verlassen hätte, hätte ich nie erkannt, worin die eigentlichen Probleme lagen – und auch nicht die entscheidende Bedeutung davon, im Glauben Seite an Seite mit anderen Christen zu kämpfen (Philipper 1:27).

3. Wir werden darauf vorbereitet, Menschen außerhalb der Gemeinde zu lieben.

Ich bin gnädiger und weniger verurteilend geworden. Ich habe gelernt, mit Meinungsverschiedenheiten umzugehen, wenn sie auftreten. Diese Lektion war grundlegend – nicht nur für mein Leben in der Gemeinde, sondern auch für meinen Umgang mit Kollegen und meiner Familie. Ich habe gelernt, besser zu lieben – beständiger und leidenschaftlicher.

Wenn du noch nie einen Grund hattest, an deiner Liebe zur Gemeinde zu zweifeln, wurde deine Liebe auch noch nicht auf die Probe gestellt. Doch gerade im Leben der Gemeinde lernen wir die wichtigsten Lektionen.

4. Wir lernen, zu lieben, was Gott liebt.

Der wichtigste Grund, warum ich die Gemeinde liebe, ist, dass Gott sie liebt. Christus liebt seine Braut – die Heiligen, für die er gestorben ist, um sie mit seinem eigenen Blut zu erkaufen (Apostelgeschichte 20:28; Epheser 5:22–23; Offenbarung 21:2.9–10; 22:17). Wenn der, der sterben musste, um uns heilig zu machen, sich nicht schämt, uns seine Brüder zu nennen – wie könnten wir es da ablehnen, Menschen zu lieben, die Sünder sind wie wir (Hebräer 2:11)?

Gottes Plan, seine Gnade in der Welt bekannt zu machen, besteht nicht darin, dass perfekte Menschen in vollkommener Harmonie miteinander leben, sondern darin, dass sündige Menschen sich in ihrer Schwachheit fest an Jesus klammern – selbst in den schwierigsten Momenten. Gottes Licht mag nicht jede dunkle Ecke in der Gemeinde erleuchten, aber es leuchtet dennoch rundherum. Wenn die Gemeinde in ihrer Schwachheit den Blick auf Jesus richtet, können mächtige Dinge geschehen.

Paulus sah das Chaos in den Gemeinden – und dennoch setzte er sein Leben dafür ein, sie aufzubauen (Apostelgeschichte 20:24). Der Grund, warum wir die Gemeinde lieben – mit all ihrem Chaos, all ihrem Gepäck – ist, dass wir dort Gottes erstaunliche Gnade sehen: wie sie unsere Sünden überwindet und uns verwandelt, damit wir dem Sohn Gottes ähnlicher werden. Wenn die Welt das sieht, kann selbst das Durcheinander der Gemeinde Jesus groß machen.


Dieser Beitrag erschien zuerst bei Desiring God. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
Mehr Ressourcen von Desiring God.

Avatar von Keith Welton

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert